Am 18. April 2012 hat der Bundesrat entschieden, in Bezug auf die Personenfreizügigkeit die Ventilklausel gegenüber den EU-8-Staaten Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn anzurufen. Nicht betroffen ist die Personenfreizügigkeit der übrigen EU-Staaten. Die Kontingentierung von Aufenthaltsbewilligungen für Arbeitnehmer aus den Staaten der EU-8 wird von verschiedener Seite im In- und Ausland kritisiert.
Im Personenfreizügigkeitsabkommen der Schweiz mit der EU ist eine Ventilklausel vorgesehen. Diese Klausel ermöglicht es der Schweiz, bis ins Jahr 2014 auf die Zuwanderung aus den EU-8-Staaten wieder Kontingente einzuführen. Voraussetzung für die Anwendung der Ventilklausel ist, dass die Anzahl Aufenthalts- und Kurzaufenthaltsbewilligungen, die an Erwerbstätige aus den EU/EFTA-Staaten ausgestellt wurden, in einem Jahr mindestens 10% über dem Durchschnitt der drei Vorjahre liegt.
Anrufung der Ventilklausel bis Mai 2013
Konkret betroffen von der Anwendung der Ventilklausel ist die Kategorie der Aufenthaltsbewilligungen B in Bezug auf Angehörige der EU-8-Staaten. Der Ausweis B ist eine fünf Jahre gültige Aufenthaltserlaubnis für ausländischen Arbeitnehmende, die bei stetiger Erfüllung der Voraussetzungen jeweils verlängert werden kann. Seitdem am 1. Mai 2011 die vollständige Personenfreizügigkeit auch gegenüber den EU-8-Staaten eingeführt wurde, haben rund 6568 Personen aus den EU-8-Staaten einen B-Ausweis erhalten. In den Jahren davor wurden im Durchschnitt dagegen nur rund 2000 B-Bewilligungen erteilt. Damit sind laut Bundesrat die Bedingungen für die Anwendung der Ventilklausel erfüllt.
Durch die Ventilklausel wird die Erteilung von B-Bewilligungen für Staatsangehörige aus den Staaten der EU-8 nun per 1. Mai 2012 für ein Jahr begrenzt: Die Kontingentierung beträgt 2180 B-Bewilligungen. Kurzaufenthaltsbewilligungen (L-Ausweise) für Arbeitnehmende aus den EU-8-Staaten, die maximal ein Jahr gültig sind, können dagegen weiterhin unbeschränkt erteilt werden. Vor Mai 2013 muss der Bundesrat die Situation erneut beurteilen und entscheiden, ob die Kontingentierung der B-Bewilligungen um ein Jahr verlängert wird.
Spätestens ab Mai 2014 gilt jedoch auch für die Staaten der EU-8 die volle Personenfreizügigkeit. Der freie Personenverkehr in die Schweiz kann dann nur noch für die beiden neusten EU-Mitglieder Rumänien und Bulgarien beschränkt werden.
Innenpolitische Gründe für die Kontingentierung
Die Anrufung der Ventilklausel scheint auf innenpolitischen Druck rund um die Debatte zu Migration und Integration zustande gekommen zu sein. Der Bundesrat schreibt als Begründung für die Anrufung der Ventilklausel:
«In seiner Interessenabwägung hat der Bundesrat berücksichtigt, dass die Personenfreizügigkeit dem Wirtschaftsstandort Schweiz viele Vorteile bringt. Die Zuwanderung aus den EU-Ländern hatte während der Rezession eine positive Wirkung auf die Konsumausgaben und die Bauinvestitionen und stützte damit die Schweizer Wirtschaft. In der Schweiz leben mehr als 1,1 Millionen Staatsangehörige aus den EU-Ländern. Sie leisten zusammen mit den Grenzgängern einen wichtigen Beitrag zur Schweizer Wirtschaft und zur Schaffung bzw. dem Erhalt von Arbeitsplätzen.
Allerdings hat der Bundesrat in den vergangenen Monaten ebenfalls festgestellt, dass die Komplexität des Themas Zuwanderung eine Diskussion über Massnahmen in den Bereichen Arbeitsmarkt (inkl. flankierende Massnahmen) und Integration erfordert, welche unter Berücksichtigung wirtschaftspolitischer Überlegungen erfolgen muss.
Mit der Anrufung der Ventilklausel setzt nun der Bundesrat eines der Mittel ein, die es ihm erlauben, die Zuwanderung in die Schweiz zu steuern. Allerdings ist sich der Bundesrat auch bewusst, dass dieses Instrument nur kurzfristig wirken kann und dass weitere langfristig wirkende Massnahmen nötig sind.»
Kritik auch aus der Schweiz
Der Entscheid des Bundesrates wurd von verschiedener Seite im In- und Ausland kritisiert: Die EU-Kommission sowie die betroffenen Mitgliedstaaten bezeichneten die Anrufung der Ventilklausel als illegal und als Verstoss gegen das Personenfreizügigkeits-Abkommen: Die EU vertritt den Standpunkt, dass die Schweiz neue EU-Mitgliedsstaaten nicht anders behandeln dürfe als alte – daher seien die Bedingungen für die Anrufung der Klausel nicht erfüllt. Es gibt jedoch keine Instanz, welche über die genaue Interpretation der im Abkommen von 2004 vorgesehenen Klausel entscheiden kann.
Ende Mai 2012 hat das EU-Parlament eine Resolution gegen den Entscheid der Schweiz, die Ventilklausel anzuwenden, verabschiedet. Die Schweiz wird aufgefordert, ihren Entscheid zu überdenken, da das Vorgehen diskriminierend sei. Die Resolution wurde mit 486 zu 30 Stimmen (bei 27 Enthaltungen) deutlich angenommen. Die Forderungden des EU-Parlaments sind zwar rechtlich nicht binden, werden aber an den Rat der Mitgliedstaaten, die EU-Komission und die Schweizer Behörden weitergeleitet. Beim Gemischten Ausschuss am 27. Juni zur Personenfreizügigkeit zwischen der EU und der Schweiz soll die Thematik offiziell diskutiert werden.
Auch in der Schweiz stösst die Anrufung der Ventilklausel auf Kritik: Der Bauernverband ist gegen die Massnahme, da in der Landwirtschaft viele Temporär-Arbeitskräfte aus den EU-Ostländern eingesetzt werden. Der Arbeitgeberverband und der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse weisen darauf hin, dass die Beschränkung der Personenfreizügigkeit keine Lösung für Probleme rund um das Thema Migration darstelle. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund und die Sozialdemokratische Partei kritisieren die Kontingentierung ebenfalls, da die Lohndumping-Probleme durch ausländische Arbeitnehmende davon ebenfalls nicht beeinflusst würden.